Thema

Das Thema der HAT 2024

Verantwortung.

// Für mich. Für uns. Für alle.

#hatverantwortung

Der Begriff „Verantwortung“ wird dieser Tage im öffentlichen Diskurs gerne als Aufforderung verwendet. Beinahe täglich wird jemand dazu aufgefordert, „Verantwortung“ zu übernehmen, also für einen Fehltritt in der Vergangenheit geradezustehen. Seltener, oder zumindest weniger öffentlichkeitswirksam, wird eine zweite Dimension von „Verantwortung“ eingefordert. Nämlich die Verantwortung dafür zu sorgen, dass das Notwendige und Zumutbare getan wird, um Ziele zu erreichen und Schäden abzuwenden.

Mit dieser zweiten Bedeutungsebene ist nicht angesprochen, wer für Vergangenes verantwortlich war, sondern wer für Kommendes verantwortlich ist. Nicht fern liegt dann die Frage, wofür der Einzelne verantwortlich sein kann bzw. sein sollte. Im Hinblick auf zwischenmenschliche und gesellschaftliche Verantwortungs-Beziehungen wollen die Heidelberger Adenauer-Tage 2024 drei Richtungen von Verantwortlichkeit betrachten: Die Verantwortung für sich selbst, für eine abgrenzbare Gemeinschaft und für die Gesellschaft als Ganzes – für mich, für uns, für alle.

Eine Studie aus dem Jahr 2022 attestiert den Deutschen zum wiederholten Mal eine abnehmende Bereitschaft zur Eigenverantwortung,[i] also der Bereitschaft und Pflicht, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen sowie die Fähigkeit, Chancen zu sehen und zu nutzen, aber auch mit Risiken umzugehen.[ii] Im Ehrenamt jedoch, wo Menschen freiwillig Verantwortung für andere übernehmen, ist es umgekehrt: Seit den 90er Jahren ist der Anteil ehrenamtlich engagierter Menschen in Deutschland sogar gestiegen.[iii] Betrachtet man schließlich als Indikator für staatliche Verantwortungsübernahme – also die Verantwortung „für alle“ – beispielsweise die Sozialstaatsquote, so ist diese von gut elf Prozent in den 60er Jahren auf etwas über 20 Prozent im Jahr 2022 geklettert[iv] und auch die Sozialbeitragsquote stieg in diesem Zeitraum um ca. sieben Prozentpunkte auf 17,2 Prozent an.[v] Steht womöglich die abnehmende Bereitschaft zur Eigenverantwortung in kausalem Zusammenhang mit dem Ausbau des Sozialstaats? Sorgt ein Mehr an sozialen Transferleistungen für eine gesteigerte Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement? Oder besteht hier überhaupt kein Zusammenhang?

// Verantwortung für mich.

Verantwortung bezogen auf das Individuum wird vielfach mit dem Begriff der Eigenverantwortung umschrieben. Hiermit ist in der Regel die Bereitschaft gemeint, die eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, Ziele eigenständig zu verfolgen und Hürden aus eigener Kraft zu überwinden. Geht es um die Verantwortlichkeit für individuelles Handeln, ist schnell mit strafrechtlicher Verantwortung erwidert. Denn in den meisten Fällen besteht die Überzeugung, dass der Mensch für sein eigenes (Fehl-)Verhalten verantwortlich ist. Umgekehrt fällt die Abgrenzung aber zuweilen schwerer: Welche Aufgaben muss der Einzelne in eigener Person wahrnehmen und darf nicht darauf hoffen, dass andere für ihn einstehen werden?

Verantwortung ist zudem ohne Freiheit nicht zu begreifen. Aus der Freiheit, die Früchte eigenen Handelns zu ernten, entsteht umgekehrt die Verantwortung für das eigene Handeln. Aus der Freiheit, Eigentum zu haben folgt die Verpflichtung aus dem und für das Eigentum. Die Freiheit, selbstbestimmt zu leben verlangt im Gegenzug, die Risiken der eigenen (ungünstigen) Entscheidungen zu tragen. Eigenverantwortung ist also sowohl Konsequenz aus einer freiheitlichen Gesellschaft als auch notwendige Bedingung für eine freiheitliche Gesellschaft.

// Verantwortung für uns.

Viele Menschen übernehmen aber auch freiwillig Verantwortung für andere oder eine Gruppe – beispielsweise im Ehrenamt oder wenn sich Eltern entscheiden, eine Familie zu gründen. Das Einstehen füreinander und die Hilfe des Einzelnen für die Gemeinschaft dort, wo andere an ihre persönlichen Grenzen gelangen, ist ein demokratischer Grundpfeiler, der Einzug in das politische Denken unseres Staates gefunden hat: Durch das Subsidiaritätsprinzip.

Der hierin angelegte Erhalt größtmöglicher Selbstbestimmung ist in Deutschland Teil der Staatsräson, wenn nämlich Ehe und Familie als kleinste Gemeinschaftsform unter besonderem Schutz stehen (Artikel 6 Grundgesetz), Vereine und Vereinigungen zur Identität eines Landes gehören oder ehrenamtliche Arbeit steuerlich berücksichtigt werden kann. Doch wo erreicht „kostenlose“ Hilfe für andere ihre Grenze? Welche Anspruchshaltung darf man gegenüber freiwilligem Engagement entwickeln? Wie viel kann der Einzelne im Ehrenamt leisten?

Wir müssen nicht weit in die Vergangenheit blicken, um uns an lebendige Beispiele dieser Fragestellungen zu erinnern. Wenn sich etwa von staatlicher Seite bei der Integration von Flüchtlingen zu großen Teilen auf Freiwillige und Ehrenamtliche verlassen wird, die mit der Zeit an die Belastungsgrenzen kommen. Oder wenn nach einer Flutkatastrophe der Nachbar seine Baufahrzeuge nicht mehr ohne entsprechende Vergütung einzusetzen bereit ist.

// Verantwortung für alle.

Auf (sozial-)staatlicher Ebene kommen schließlich – vor allem in der sozialen Marktwirtschaft – zur Verantwortung des Einzelnen noch die Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität hinzu. Individuen geben anteilig ihre Souveränität und Eigenverantwortung in staatliche Koordination, sodass das Risiko des Einzelnen innerhalb eines bestimmten Verantwortungsbereichs von der Gesellschaft getragen wird. Zunehmend scheint der Staat aber nicht mehr nur die ordnende Rolle einzunehmen, sondern die bestimmende, und wirkt wie eine eigene, von der Gesellschaft losgelöste Instanz, die bedingungslos um Veränderung und Unterstützung angerufen werden kann. Laut ertönen dann die Rufe nach Regulierung oder dem Ausbau von Sozialleistungen. Ist nicht aber nach dem Subsidiaritätsprinzip staatliches Eingreifen und Verteilen nur ultima ratio? Weicht die Lust an der Eigenverantwortung und Gestaltung einem zunehmenden Willen, Verantwortung an den Staat abzugeben?

Sozialstaatliche Sicherungssysteme sind ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft und eine Errungenschaft der Sozialen Marktwirtschaft, die existentielle Risiken des Einzelnen absichern. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung ist es aber nicht „der Staat“ der hier Verantwortung übernimmt, sondern die faktische Haftungsunion der Steuer- und Abgabenzahler. Für die einen mag sich also der Ausbau des Sozialstaats wie die erleichternde Abgabe von Verantwortung anfühlen, für andere hingegen wie die beschwerende Übernahme. Hinzu kommt, dass jede Abgabe der Eigenverantwortung gleichzeitig die Übertragung individueller Souveränität an staatliche Autorität bedeutet, die wiederum zu einer Reduzierung der persönlichen Freiheit führen kann. Welche Folgen kann es haben, wenn Menschen die Verantwortung für sich selbst weitgehend abgeben? Was wird, wenn die Gesellschaft zunehmend für den Einzelnen einstehen muss?

Aber nicht nur in Bezug auf soziale Absicherung spielt Verantwortung eine wesentliche Rolle in der staatlichen Gemeinschaft. In den letzten Jahren haben wir die gießkannenartige Geldausschüttung für Firmen und Privatpersonen in (erwarteten) Krisenzeiten ebenso häufig beobachten können, wie die „staatliche Vollversicherung“ nach Naturkatastrophen. Fast scheint es, als bestehe in jeder Lage ein Anspruch darauf, dass „Vater Staat“ rettend zugunsten Einzelner eingreift. Steht dies im Gegensatz zum Prinzip der Eigenverantwortung und der persönlichen Anstrengung zur Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse? Ist der Staat tatsächlich ein Vollversicherer und wenn ja, wird durch diese Rolle ein Dämpfer für den Einsatzwillen des Einzelnen gesetzt?

Staatliche Verantwortung kann schließlich auch nicht ohne den Blick auf die Folgen für nachwachsende Generationen bleiben. Wer heute Geld ausgibt, das er nicht hat, muss zwangsläufig morgen mehr einnehmen. Dies gilt im Privaten wie auf staatlicher Ebene. So kann man auch zunehmende Staatsverschuldung als – vielpraktizierte – Form der Verantwortungsabgabe verstehen. Auch wenn viele heute nicht mehr davon ausgehen, dass die Staatsschulden unserer Generation in der Zukunft tatsächlich beglichen werden müssen, bürden wir folgenden Generation doch die Risiken und potenziellen Konsequenzen von Verschuldung auf.

// Verantwortung übernehmen. Eine Pflicht?

Am Ende steht die Frage, wie mit unterschiedlich stark ausgeprägter Bereitschaft zur Eigenverantwortung innerhalb der Bevölkerung umzugehen ist. Gibt es eine Pflicht, Verantwortung für andere zu übernehmen? Besteht umgekehrt eine Notwendigkeit, für sich selbst, sein Handeln und den eigenen Erfolg verantwortlich zu sein? Gibt es gar eine Pflicht zum Ehrenamt oder muss Handeln für andere (staatlich finanziert) vergütet werden? Zu wie viel Eigenverantwortung sind wir bereit und zu wie viel „Verantwortung für alle“ wollen wir uns als Gesellschaft verpflichten? An welchem Punkt stößt der Anspruch einiger, Eigenverantwortung in die staatliche Haftungsgemeinschaft zu geben, auf den Wunsch nach Freiheit anderer?

Gemeinsam mit unseren Referenten und Diskussionsteilnehmern wollen wir uns bei den Heidelberger Adenauer-Tagen 2024 diesen und weiteren Fragen widmen. Wir freuen uns auf einen lehrreichen und spannenden Austausch mit unseren Gästen und den (Alt-)Stipendiaten untereinander.

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[i] Ergo Risiko-Report Über die Risikokompetenz und Eigenverantwortung der Deutschen. Zugriff 22. Januar 2024 unter https://www.ergo.com/-/media/ergocom/microsites/risiko-report/pdf/2022/ergo-risiko-report-2022-web.pdf?la=de&hash=B7C3966A557EBBD16593A12823146A7C067EF27A.

[ii] Ebd., Seite 15.

[iii] Burkhardt, L., & Schupp, J. (2019). Wachsendes ehrenamtliches Engagement: Generation der 68er häufiger auch nach dem Renteneintritt aktiv. DIW Wochenbericht, 86(42), 765-773.

[iv] Bundesministerium für Finanzen (BMF). Entwicklung der Staatsquote. Zugriff 22. Januar 2024 unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Datenportal/Daten/offene-daten/haushalt-oeffentliche-finanzen/s12-entwicklung-der-staatsquote/s12-entwicklung-der-staatsquote.html.

[v] BMF. Entwicklung der Steuer- und Abgabenquote. Zugriff 22. Januar 2024 unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Datenportal/Daten/offene-daten/steuern-zoelle/s11-entwicklung-steuer-und-abgabenquoten/entwicklung-steuer-und-abgabenquoten.html.