Das Thema der HAT 2023
Grenzenlose Nachhaltigkeit
// Wird „tiefer – langsamer – kürzer“ zum Motto der Zukunft?
#hatbestand
Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Sie ist das Modewort unserer Zeit. Dass selbst die Unternehmen auf der Suche nach dem größten Umsatz mit ihr werben, zeigt dass die Idee von nachhaltigem Handeln endgültig im Massenpublikum und damit in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Die Gründe hierfür haben spätestens mit der Veröffentlichung der Studie „The Limits of Growth“ des Club of Rome im Jahre 1972 die Bühne der Öffentlichkeit betreten,[1] im Wesentlichen nämlich: Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoff-Reserven und Zerstörung von Lebensraum. „Nachhaltig“ ist das Markenzeichen des unsere Zeit entscheidend prägenden Geistes, der fordert, sich und den eigenen Konsum zu begrenzen, sich selbst zurückzunehmen, bescheidener und anspruchsloser zu sein. Nachhaltiges Handeln und Konsumieren markiert für nicht wenige den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Richtig und Falsch. Es ist der Wert, der das Denken und Handeln der Menschen und zunehmend der gesamten Gesellschaft maßgeblich leitet und bestimmt.
Obschon das Urteil darüber, ob konkretes politisches, wirtschaftliches oder privates Handeln nachhaltig sei, oft rasch gefällt ist, erscheint der Begriff der Nachhaltigkeit ein schillernder zu sein. Was genau ist eigentlich Nachhaltigkeit? Worauf bezieht sich die Bewertung eines Handelns als nachhaltig? In Bezug auf welche Fragestellungen ist die Einordnung als (nicht) nachhaltig überhaupt sinnvoll? Welche Ziele verfolgt Nachhaltigkeit? Was sind Interessen, hinter denen Nachhaltigkeit zurückstehen muss? Was, wenn es keine der Nachhaltigkeit gleichwertigen Positionen gibt, die man gegeneinander abwägen müsste? Wo und wie vollzieht sich ein nachhaltiger Umbau unserer Gesellschaft schon heute und was folgt noch?
Diesen abstrakten Fragen und ihren konkreten Auswirkungen auf den Alltag in unserer Gesellschaft durch politisches und privates Handeln wollen die Heidelberger Adenauer-Tage 2023 nachgehen.
// Nachhaltigkeit: Begriff und Verständnis
Der Begriff der „Nachhaltigkeit“ scheint noch nicht endgültig geklärt zu sein. Aus der Forstwirtschaft stammend bezeichnet er eine Bewirtschaftungsmethode, bei der dem Wald auf Dauer nicht mehr Holz entnommen wird, als er reproduzieren kann.[2] Hiervon hat sich der Begriff emanzipiert und ökonomische Bedeutung angenommen, die geläufiger Weise mit der Definition der Brundtland-Kommission in Verbindung gebracht wird, wonach eine nachhaltige Entwicklung „die Bedürfnisse der gegenwärtig lebenden Menschen befriedigt, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen infrage zu stellen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“.[3] Anstelle einer solchen – scheinbar – griffigen Definition liefern die Vereinten Nationen gleich 17 sogenannte „Sustainability Development Goals“ („SDG“). Hierzu zählen unter anderem auch die Nachhaltigkeitsziele der „gender quality“ und der Reduktion von „Ungleichheit innerhalb und zwischen Ländern,[4] was – selbst unter ökonomischen Gesichtspunkten – alles andere als zwingend erscheint. Die Vermutung, dass hier begrifflich noch einiges im Unklaren ist, wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass selbst in und zwischen den „grünen“ Parteien – per se und stets Nachhaltigkeit als Slogan führend – über elementare Fragen wie die Umweltverträglichkeit von Atomkraft heftig gestritten wird. Beispielsweise wird auch die Frage danach, ob und wie eine Verkehrswende gelingen kann – durch E-Scooter, Lastenräder oder vielleicht doch das E-Auto – wird beinahe nirgends gleich beantwortet. Von einer „sozialen“ Nachhaltigkeit wird zudem am seltensten gesprochen.
Jedenfalls aber ist im gleichen Zuge wie von Nachhaltigkeit auch oft von umfassenden, ganzheitlichen oder zumindest kategorischen Veränderungen die Rede. Nicht selten fällt der Begriff der umfassenden der nachhaltigen Transformation oder des Umbaus der Gesellschaft. Dieser nachhaltige Umbau soll maßgeblich die Bereiche Umwelt und Ernährung, Wirtschaft und Energie, Soziales und Finanzen betreffen.[5] Vielfach werden dabei die drei Grundprinzipien der Nachhaltigkeit als Verringerung von Produktion und Konsum (Suffizienz), ergiebigere Nutzung von Material und Energie (Effizienz) und naturverträgliche Stoffkreisläufe, Wiederverwertung, Müllvermeidung (Konsistenz) beschrieben.[6]
Weniger stark im Fokus der öffentlichen Debatte, aber gleichwohl Teil des Themenfeldes „Nachhaltigkeit“ ist die Frage nach sozialer Nachhaltigkeit. Denn neben ökologischen und ökonomischen spielen auch soziale Aspekte immer wieder eine Rolle bei der Frage danach, wie Gesellschaft auf Dauer stabil erhalten kann. Die Vermeidung oder Abschwächung von Generationenkonflikten wird hier ebenso diskutiert wie Fragen der Rolle von Arbeit und Arbeitsteilung, sozialer (Grund-) Sicherung und Teilhabe. Stehen diese Fragen oft auch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit, so sollten sie dennoch stets mitgedacht werden.
// Nachhaltiger Umbau der Gesellschaft: Handeln der Politik
Obwohl der Begriff der Nachhaltigkeit in seiner thematischen Vielfalt noch eine nicht unerhebliche Unschärfe aufweist, werden auf seiner Grundlage bereits weitreichende Ziele definiert, Maßnahmen umgesetzt und Veränderungen angestrebt.
So greift die Politik schon heute mit zahlreichen Maßnahmen zur Förderung der Nachhaltigkeit in die Gesellschaft ein. Aus europäischer Sicht ist hier an erster Stelle der sogenannte „Green Deal“ zu nennen, den die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am 11. Dezember 2019 vorgestellt hat.[7] Geplant sind umfangreichen Maßnahmen im Sinne eines nachhaltigen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft, deren Hauptziel es ist, Europa bis zum Jahr 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Schon im Jahre 2030 sollen die Netto-Treibhausgasemissionen um mindestens 55 % im Vergleich zum Jahre 1990 gesenkt worden sein.
„Um den europäischen Grünen Deal umzusetzen, muss die Politik in Bezug auf die Versorgung der gesamten Wirtschaft mit sauberer Energie sowie in den Bereichen Industrie, Produktion und Verbrauch, großräumige Infrastruktur, Verkehr, Ernährung und Landwirtschaft, Bauwesen, Besteuerung und Sozialleistungen überdacht werden“.[8]
Beobachter urteilen angesichts der Tragweite der hier formulierten Ziele, dass der Green Deal die „ehrgeizigste Agenda, die sich die EU je gegeben hat“, darstelle sowie die darin vorgesehene „Umgestaltung der EU-Wirtschaft hin zur Klimaneutralität (…) nicht weniger als die Transformation des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells in Europa“ bedeute.[9]
Allein über den „Just Transition Fund“ und das „Programm für Umwelt und Klimaschutz“ stellt die Europäische Union 14,5 Milliarden Euro bereit. Insgesamt seien Schätzungen zufolge in den Jahren zwischen 2021 und 2030 jährlich Investitionsströme von 255 Milliarden Euro erforderlich (was ungefähr 2 % der jährlichen EU-weiten Wirtschaftsleistung entspricht), um die langfristig angestrebte Klimaneutralität auch nur anzustoßen.[10] Dass die Dimensionen, in denen von dem eigenen Vorhaben gesprochen wird, nicht groß genug sein können, beweist die Kommissionspräsidentin, indem sie von Europas „man on the moon moment“ spricht.[11]
So wird derzeit zwischen dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament über eine „Corporate Sustainability Due Diligence Directive“ (Kommissionsentwurf – 2022/0051(COD); „CSDDD“) beraten, die hier stellvertretend genannt und aufgegriffen sein soll. Hiermit wird Unternehmen die Verantwortung für die Einhaltung der wesentlichen internationalen Abkommen über Menschenrechte und den Umweltschutz übertragen.[12] Die Bindung privater Unternehmen an Menschenrechte und sonstiges Völkerrecht stellt einen rechtspolitischen Paradigmenwechsel dar, da bislang nur in Ausnahmefällen ein privates Unternehmen Grund- und Menschenrechte gegenüber dem Bürger durchsetzen musste, handelt es sich hierbei doch eigentlich um eine der wesentlichsten Aufgaben des Staates. Potentiell negative Auswirkungen innerhalb der Lieferketten – zum Beispiel auf die Menschenrechte – sollen nicht nur ermittelt, vermieden und behoben werden (Art. 6 ff. CSDDD). Vielmehr steht den Geschädigten – weltweit (Art. 22 Abs. 5 CSDDD) – ein individueller Schadensersatzanspruch zu. Hiervon hat der deutsche Gesetzgeber, als er im Hinblick auf dieses sich abzeichnende Regelwerk das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz[13] erließ, noch abgesehen. Außerdem soll jedes einzelne Unternehmen darlegen, dass das Geschäftsmodell und die Strategie des Unternehmens mit „der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C gemäß dem Übereinkommen von Paris vereinbar sind“ (Art. 15 Abs. 1 CSDDD). Flankierend werden Unternehmen mit einer neuen „Corporate Sustainability Reporting Directive“ verpflichtet, jährliche Nachhaltigkeitsberichte zu verfassen.[14] Der schiere Verwaltungs-, Rechtfertigungs- und erwartbare Durchsetzungsaufwand für etwaige Ahndungen drängt sich förmlich auf.
Welche weiteren (gesetzgeberischen) Maßnahmen derzeit bereits in Planung sind oder für die Zukunft noch vorgesehen ist, möchten wir mit Vorträgen und in Diskussionen weiter vertiefen. Hierbei möchten wir insbesondere auch einen Blick werfen auf die Frage, welche betriebswirtschaftlichen Auswirkungen diese Reformen auf europäische Unternehmen haben werden.
// Ziel der Nachhaltigkeit: Bestenfalls unklar
Das Ziel der Nachhaltigkeit beschränkt sich – wie gesehen – aber nicht auf die Reduktion des Kohlenstoffdioxidausstoßes. Dies erhellt sich bereits aus den zum „Green Deal“ geplanten Maßnahmen, insbesondere der Verpflichtung von Privatunternehmen auf die Menschenrechte. Noch deutlicher gehen die insgesamt 17 Nachhaltigkeitsziele[15] der Vereinten Nationen hierüber hinaus. Wie hängen diese aber zusammen, was ist der gemeinsame Nenner? Wie verhalten sich Suffizienz, Effizienz und Konsistenz hierzu? Taugen sie einzeln oder zusammengenommen als Prinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens, als unbedingt zu verfolgendes Ziel? Oder birgt die bewusste Verringerung von Produktion und Konsum (Suffizienz) nicht die Gefahr, dass wir vor allem uns selbst und damit auch unseren hehren Zielen schaden? Bringt der Umweltschutz möglicherweise sogar notwendig einen Wohlstandsverlust mit sich? Bejahendenfalls, wie kann in der Bevölkerung trotzdem eine dauerhafte Akzeptanz für nachhaltige Ziele gesichert werden?
Ist das Hauptziel der Nachhaltigkeit etwa, dass wir Menschen keine Spuren oder Schäden hinterlassen sollen? Dann stellt sich die Frage, was alles als zu vermeidender Schaden gilt. Ist es etwa sinnvoll, das Aussterben jeder noch existenten Art verhindern zu wollen, wenn doch das Artensterben in der Geschichte der Erde eher die Regel als die Ausnahme ist?
Ist es überhaupt möglich, dass Menschen keine Spur hinterlassen oder ist nicht genau das die zwingende Folge ihrer Existenz? Menschen richten nun einmal Schäden an, „schlicht und einfach deshalb, weil (sie) leben. Weil Leben Stoffwechsel bedeutet. Und Stoffwechsel verbraucht Energie“.[16] Konsequent ist insofern, wenn radikale Umweltschützer zum „birth strike“ aufrufen. Dies ist der einzige erfolgversprechende Weg, wie nachhaltig verhindert werden kann, dass menschliches Dasein einen Eindruck hinterlässt. Aber ist das überhaupt noch wünschenswert? Geradezu als Gegenmodell zu dieser vermeintlich moralisch hochstehenden Daseins- und Menschenfeindlichkeit erscheint demgegenüber das christliche Weltbild, das den Menschen die Losung ausgibt: „Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!“[17]
Die Bestimmung des genauen Ziels der Nachhaltigkeit würde nicht zuletzt dem Bedürfnis Rechnung tragen, die (vermeintlich) notwendigen Veränderungen unserer Gesellschaft irgendwie sinnvoll zu begrenzen. Nur, wer sein Ziel genau kennt, kann die richtigen Maßnahmen treffen, um es zu erreichen. Ist das Ziel dafür hinreichend genau bestimmt? Wäre das gewährleistet, diente dies auch dem Erfolg der Sache selbst und würde dabei helfen, die durchaus berechtigten nachhaltigen Belange wirksam umzusetzen.
Gesetz dem Fall aber, dass es keinen „gemeinsamen Nenner“ gibt sondern bloß jene Vielzahl von Zielen, wie von den Vereinten Nationen proklamiert, so müssten diese Ziele für sich genommen wenigstens widerspruchsfrei definiert sein. Wie vermeidet man aber etwa den Konflikt zwischen Umweltschutz und der Verringerung von Hunger und Armut erfolgreich?
// Nachhaltigkeit als Prinzip: Zielverfolgung um jeden Preis?
Nähert man sich, wie hier geschehen, dem Konzept der Nachhaltigkeit über den Begriff sowie die Umsetzungsbestrebungen an, kommen einem zwangsläufig Widersprüche in den Sinn. Der Konflikt entweder nachhaltiger Interessen untereinander oder nachhaltiger Interessen mit anderen ist unausweichlich.
Das Ausmaß geplanter und geforderter Veränderungen vor Augen fragt man sich, ob es neben Grenzen für andere Interessen auch Grenzen für die Nachhaltigkeit selbst gibt. Schon heute greift Nachhaltigkeit konkret nach dem privaten Lebensbereich, wenn unter diesem Begriff Freiheitsbeschränkungen – mal mehr und mal weniger versteckt – den Alltag des Einzelnen betreffen. Wenn Nachhaltigkeit mit (buchstäblicher) Weltrettung gleich- und folglich um jeden Preis durchzusetzen ist, welche Werte und Positionen könnten ihr dann noch entgegengesetzt werden? Wenn sich ein Ausgleich der Nachhaltigkeit mit anderen Interessen schon dem Grunde nach verbieten würde, wäre dann Nachhaltigkeit das absolute Ziel, dem alles unterzuordnen ist, dem alle anderen Interessen zu weichen haben?
Oder sind nicht vielmehr, wie auch in allen anderen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, alle legitimen, betroffenen Interessen in den bestmöglichen, das heißt schonenden und für alle sinnvollen, Ausgleich zu bringen? Dazu müsste allerdings das nachhaltige Interesse zunächst genau erfasst werden, was wiederum voraussetzt, dass Grundlagen und Ziele dieses Denkkonzepts feststehen.
// Erwartungshaltung: Totales Umdenken
Auch wenn „schneller, weiter, höher“ auf den ersten Eindruck ausgedient zu haben scheint: Gerät das nachhaltige Denken wirklich auf ganzer Linie mit unseren tradierten Verhaltens- und Denkformen in Konflikt oder sind diese nicht auch auf die eine oder andere Weise für die (neuen) Probleme unserer Zeit anschlussfähig? Sind die neuerdings verstärkt gefragten Werte und Tugenden möglicherweise gar nicht so neu, wie man vermuten könnte? Gibt es alte, vergessene Glaubenssätze, die zu unserem überlieferten Bestand gehören und die nur „reaktiviert“ werden müssen? Hier lohnt vor allem die Betrachtung aus der theologischen Perspektive. Denn sind nicht die Bescheidenheit und Unterordnung, die nun von uns im Dienste der Umwelt und des Menschen erwartet werden, dem Christentum in Form der „Demut“ wohlbekannt?
Die notwendigen Veränderungen auf ein sinnvolles Maß begrenzen, bedeutet auch, zu entscheiden, was bleiben kann. Gerade wer sich zu sehr auf Seiten des Guten wähnt, läuft Gefahr, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Dieser im besten Sinne konservative, bewahrende Impuls ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in der wir leben, nicht nur für die eingangs bezeichneten Missstände verantwortlich ist sondern auch für einen in der Geschichte beispiellosen Wohlstand breiter Massen. Zudem ist aus der Geschichte bekannt, dass zu anspruchsvolle – man könnte auch sagen „totalitäre“ – Lösungsansätze in aller Regel scheitern.
Diese „demütigere“ Perspektive soll auch helfen, dass aus dem „aktiven Widerstand“, den die „Mitrebell:innen“ schon heute auf Deutschlands Straßen tragen,[18] keine Revolutionsrufe werden. Erinnerungen werden wach an die Anfänge der Umweltbewegung, als diese noch Hand in Hand mit der Studentenbewegung ging. Hier galt es als Allgemeinplatz, dass die westliche Kultur und insbesondere die bürgerliche, als präfaschistisch angesehene Gesellschaftsordnung auf eine ganz grundlegende Art krank und dringend reform-, wenn nicht gar revolutionsbedürftig ist. Die intellektuelle Avantgarde ihrer Zeit leistete fleißig Schützenhilfe: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.[19] Manche mehr gesellschafts- bzw. sozialpolitische als umweltpolitische Forderung dieser Tage erinnert an jene Zeiten.
Und auch zurück im Heute bleiben Fragen offen: Sind Technologie und Globalisierung der Freund oder der Feind der Nachhaltigkeit? Was ist mit unserem Glauben an Fortschritt durch Vernunft und Wissenschaft, dem Kind der Aufklärung, welches die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrhunderten geeint hat, nachdem es das Christentum nicht mehr vermochte? Hat er uns in die Irre geführt und sich damit gleichsam als Irrweg erwiesen? Wird etwa die „Klimakatastrophe“ dem Fortschrittsglauben den Todesstoß versetzen, nachdem ihn die zahllosen und anhaltenden politischen, vor allem militärischen, Katastrophen der Moderne schon länger fragwürdig erscheinen ließen? Oder bedarf der Begriff des Fortschritts nur einer kleinen Korrektur? Die christlich-theologische Perspektive vermag auch hier befruchtende Anreize zu geben, gilt doch der neuzeitliche Fortschrittsgedanke als säkularisierte Form des Glaubens und Hinarbeitens auf das durch die Schrift verheißene Friedensreich auf Erden – sog. Millenarismus oder Chiliasmus.[20]
// Ausblick
Die Themenwahl der diesjährigen Heidelberger Adenauer-Tage war nicht zuletzt beeinflusst durch die vor allem zum Jahreswechsel zunehmenden rebellischen Aktionen der sogenannten Klimaaktivisten und der Rezeption ihrer Handlungen in Politik und Gesellschaft, aber auch der Umgang mit Begrifflichkeiten, Themensetzung und Konzeption von und in Politik – und wo diese zu kurz greifen. Die Heidelberger Adenauer-Tage 2023 suchen daher den Austausch zu den hier aufgeworfenen Fragen mit Vertretern aus Gesellschaft, Wissenschaft, Politik und Religion. Im Rahmen von Einzelvorträgen und offenen Podiumsdiskussionen soll der interdisziplinäre Austausch mit den Altstipendiaten und derzeitigen Mitgliedern der Begabtenförderung ermöglicht werden und zu einem Erkenntnisfortschritt beitragen.
[1] Hierzu grundlegend und zum Download unter https://www.clubofrome.org/publication/the-limits-to-growth/.
[2] Nach Hans Carl von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica oder Hauswirthliche Nachricht und Naturgemäße Anweisung zur Wilden Baumzucht.
[3] Brundtland Bericht 1987, abrufbar u.a. unter https://www.are.admin.ch/are/de/home/medien-und-publikationen/publikationen/nachhaltige-entwicklung/brundtland-report.html.
[4] Webseite der Vereinten Nationen – Department of Economic and Social Affairs, abrufbar unter https://sdgs.un.org/goals.
[5] Siehe u.a.: Der europäische Grüne Deal, COM(2019) 640 final, S. 4, abrufbar unter https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de.
[6] Vgl. u.a. Information des BUND, abrufbar unter https://www.bund-bawue.de/themen/mensch-umwelt/nachhaltigkeit/nachhaltigkeitsstrategien/.
[7] Der europäische Grüne Deal, COM(2019) 640 final, S. 4, abrufbar unter https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de.
[8] Ebd., S. 4 (Hervorhebungen d. d. Verf. hinzugefügt).
[9] Susanne Dröge, Artikel vom 14. Januar 2020, abrufbar unter https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/green-new-deals-2022/345729/der-europaeische-green-deal/.
[10] Vgl. Sarah Wolf et al., The European Green Deal – More Than Climate Neutrality, in: Intereconomics 2/2021, S. 99–107, hier S. 102.
[11] Ursula von der Leyen, Interview in: Die Politische Meinung, Ausgabe 568, abrufbar unter https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/interview-europas-mann-auf-dem-mond-moment.
[12] Vgl. Anhang, Teil 1 zur CSDDD, im Ganzen abrufbar z.B. unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A52022PC0071.
[13] Abrufbar z.B. unter https://www.gesetze-im-internet.de/lksg/.
[14] Parlament-Az.: 2021/0104(COD); Rat-Az.: PE-CONS 35/22.
[15] Im Einzelnen: „no poverty; zero hunger; good health and well-being; quality education; gender equality; clean water and sanitation; affordable and clean energy; decent work and economic growth; industry, innovation and infrastructure; reduced inequalities; sustainable cities and communities; responsible consumption and production; climate action; life below water; life on land; peace, justice, and strong institutions; and partnerships for the goals“, abrufbar z.B. unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/die-un-nachhaltigkeitsziele-1553514.
[16] Vince Ebert, Lichtblick statt Blackout, 2022, S. 79.
[17] Die Bibel, Buch Genesis (1. Buch Mose), Kapitel 1, Vers 28.
[18] Prinzipien und Werte der Gruppierung Extinction Rebellion, abrufbar unter https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/prinzipien-und-werte/prinzip-vier/.
[19] Theodor W. Adorno: Minima Moralia (Gesammelte Schriften 4), Frankfurt/M. 1997, Seite 43.
[20] Die Bibel, Offenbarung des Johannes, Kapitel 20, Verse 1-10.